Aktuelle Rechtsprechung:
Verwaltungsrecht
Befehlsverweigerung aus Gewissensgründen
(Art. 4 Abs. 1, 65 a, 87 a GG)BVerwG (21.06.2005 - 2 WD 12.04)
DVBl 2005, 1455Der Sachverhalt:
Der Kläger ist Major und Berufssoldat bei der Bundeswehr. Im April 2004 weigerte er sich, den Befehl seines Vorgesetzten zur Weiterentwicklung eines militärischen Softwareprogramms zu befolgen. Er berief sich dabei auf seine Gewissensfreiheit, weil das Programm nachweislich zur Unterstützung des von ihm als völkerrechtswidrig angesehenen Irak-Kriegs der U.S.A. eingesetzt werde. Obwohl der Kläger frühzeitig seinen Vorgesetzten auf seinen Gewissenskonflikt hingewiesen und um Versetzung gebeten hatte, bestand die vorgesetzte Behörde darauf, dass der Befehl ausgeführt werde. Die Unterstützung der U.S.A. sei aufgrund einer Anweisung des Verteidigungsministeriums erforderlich, weil dies einem Kabinettsentschluss entspreche. Ein Gespräch lehnte sie mit Hinweis auf die Befehlsstrukturen bei der Bundeswehr ab.
Der Kläger blieb bei seiner Einstellung und wurde schließlich disziplinarrechtlich zum Hauptmann degradiert. Seine Klage vor dem Truppendienstgericht blieb erfolglos. Gegen das Urteil des Truppengerichts legte der Kläger Berufung beim BVerwG ein.Die Entscheidung:
Das BVerwG hat das Urteil des Truppendienstgerichts aufgehoben.
Das BVerwG geht davon aus, dass der Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 GG (Gewissensfreiheit) bei dem Kläger eröffnet ist. Die Schutzwirkung des Art. 4 Abs. 1 GG wird nicht durch Art. 4 Abs. 3 GG verdrängt. Denn Art. 4 Abs. 1 GG ist ein eigenständiges Grundrecht. Das ergebe sich unmittelbar aus dem Wortlaut der Norm und sei im Grundsatz allgemein anerkannt.
Der Schutzbereich der Gewissensfreiheit wird unter Hinweis auf die ständige Rechtsprechung des BVerfG dahin interpretiert, dass damit jede ernste sittliche, an den Kategorien von Gut und Böse orientierte Entscheidung gemeint ist, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und innerlich unbedingt verpflichtend erfährt.
Sollte es gegenläufige Gesetze geben, so muss dem Individuum von Rechts wegen eine gewissenschonende Alternative angeboten werden. Der Einzelne muss also vor Gewissenskrisen geschützt werden.
In den Schutzbereich hat die vorgesetzte Behörde eingegriffen.
Die vorgesetzte Behörde hat dem Kläger keine Möglichkeit geboten, durch Erfüllung anderer Pflichten der Kollisionslage auszuweichen.
In diesem Zusammenhang muss berücksichtigt werden, dass sich der Kläger als Berufssoldat grund-sätzlich zum Waffeneinsatz im Krieg bekannt hat. Die Befehlsverweigerung kann auf diesem Hinter-grund nur dann als ernsthafte Gewissensentscheidung anerkannt werden, wenn der Soldat nicht vordergründig und leichtfertig in den Gewissenskonflikt geraten ist.
Das BVwerG sieht jedoch in der Entscheidung des Klägers eine ernsthafte und nachvollziehbare Gewissensentscheidung:
Der Irak-Krieg sei völkerrechtswidrig. Damit sei auch jede -egal welche- Unterstützungshandlung völkerrechtswidrig. Ein Soldat muss nicht aktiv an der Waffe in einen Krieg ziehen. Auch die von dem Kläger verlangte Handlung stellte eine Unterstützung einer völkerrechtswidrigen Militäraktion dar.Die Gewissensfreiheit konnte vorliegend nicht grundrechtskonform eingeschränkt werden.
Die Gewissensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG weist keine ausdrücklichen Schranken auf. Damit kann die Gewissensfreiheit nur durch andere Verfassungswerte eingeschränkt werden.
Zu solch einer Abwägung der Verfassungswerte sind die Gerichte aber nur berufen, wenn der Ge-setzgeber -wie hier- die widerstreitenden Belange nicht selbst voneinander abgegrenzt hat. In diesem Fall haben die zur Entscheidung berufenen Richter die kollidierenden Regelungen so auszulegen, dass sie in ihrer spezifischen Wirkungskraft jeweils optimal zur Geltung kommen (sog. praktische Konkordanz).
Die Einschränkung der Gewissensfreiheit kann nicht durch den Schutz des Wehrdienstes (Art. 12 a GG), die Gesetzgebungskompetenz des Bundes im Bereich der Bundeswehr (Art. 73 Nr. 1 GG) oder durch die Verfassungsnormen des Art. 115 a ff. GG gerechtfertigt werden.
Art. 87 a Abs. 1 GG kann die Gewissensfreiheit ebenfalls nicht einschränken:
Art. 87 a Abs. 1 GG macht Aussagen zur Aufstellung von Verteidigungskräften und der damit zu-sammenhängenden Funktionsfähigkeit der Bundeswehr.
Diese Grundgesetznorm kann aber nicht jedes Mal die schrankenlos garantierte Gewissensfreiheit verdrängen, wenn sich die Berufung auf das Grundrecht in den Augen des jeweiligen Vorgesetzten als für die Bundeswehr störend oder für den Dienstbetrieb belastend darstellt. "Das Grundgesetz normiert eine Bindung der Streitkräfte an die Grundrechte, nicht jedoch eine Bindung der Grundrechte an die Entscheidungen und Bedarfslagen der Streitkräfte" (BVerwG, DVBl 2005, 1455, 1460).
Somit sind die Streitkräfte selbst im Verteidigungsfall an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) sowie an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) gebunden. Es wäre deshalb verfehlt, zunächst von den Streitkräften oder ihrer jeweiligen politischen Führung definierte Bedarfs-. Effektivitäts- oder Funktionsanforderungen heranzuziehen und diese dann dem Grundrecht der Gewissensfreiheit gegenüber zu stellen und in einer Abwägung entgegenzusetzen.Eine Kollisionslage besteht allerdings mit der in Art. 65 a GG verbürgten Befehls- und Kommandogewalt. Denn es besteht kein Zweifel, dass die Kommandogewalt gefährdet wäre, wenn der Soldat im Einzelfall unter Hinweis auf seine Gewissensfreiheit den Befehl verweigern kann.
Diese Kollisionslage ist durch die Herstellung einer praktischen Konkordanz aufzulösen. Es muss also versucht werden, die gegenläufigen Positionen durch Anpassung und schonende Zurücknahme einer optimalen Wirkung zuzuführen.
Dies kann im vorliegenden Fall nur gelingen, wenn beide Seiten konstruktiv mit- und zusammenwirken.
Dem Soldaten oblag es, den zuständigen Vorgesetzten möglichst frühzeitig über seine Gewissensnö-te zu informieren. Der militärische Vorgesetzte war hingegen angehalten, zu prüfen, ob von der Durchsetzung des Befehls einstweilig Abstand genommen werden kann und dem Soldaten eine gewissenschonende Handlungsalternative angeboten werden kann.Diesen Anforderungen wurde nur der Kläger gerecht. Seine Vorgesetzten und das Truppengericht haben sich hingegen nicht bemüht, die gegenseitigen Interessen in Einklang zu bringen.
Die Bewertung:
Die Entscheidung des BVerwG ist grundrechtsdogmatisch und konsequent. Es räumt dem Soldaten den Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 GG ein und erlaubt bei der schrankenlosen Gewissensfreiheit nur die Abwägung mit anderen verfassungsrechtlichen Gütern, die insgesamt in Einklang miteinan-der gebracht werden müssen (praktische Konkordanz).
Der Begriff der Eheschließung bei Ausländern
(Art. 6 GG, § 26 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG)BVwerG (22.2.2005 - 1 C 17/ 03)
NVwZ 2005, 1191Der Sachverhalt:
Die Klägerin ist eine staatenlose Kurdin jezidischen Glaubens. Sie lernte in den 1970ern in Syrien ei-nen Mann (M) kennen. Aufgrund der politischen Verfolgung des M konnte die Klägerin den M in Syrien nicht heiraten. So beschlossen die Klägerin und der M nach einem religiösen Ritus zu "heirateten". Dieser Ritus ist in Syrien nicht als Eheschließung anerkannt.
In der Zwischenzeit wurde der M als Asylberechtigter in Deutschland anerkannt.
Die Klägerin beantragte, nun auch als Asylberechtigte in Deutschland anerkannt zu werden, weil "ihr Mann" bereits anerkannt sei und die "Ehe" bereits vor der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland bestanden habe.Die Entscheidung:
Das BVwerG folgt der Klägerin in ihrer Ansicht nicht.
Es orientiert sich dabei strikt am Wortlaut des § 26 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG. Danach wird dem Ehegat-ten eines als Asylberechtigten anerkannten Ausländers auf Antrag Asyl erteilt, wenn die Anerkennung des Ausländers als Asylberechtigter unanfechtbar ist, die Ehe schon in dem Staat bestanden hat, in dem Asylberechtigte politisch verfolgt wurde und wenn weitere Voraussetzungen erfüllt sind.
Nach dem BVerwG liegt eine Ehe im Sinne des § 26 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG nur dann vor, wenn Mann und Frau eine Lebensgemeinschaft eingehen, die im Verfolgerstaat auch anerkannt und regist-riert worden ist. Der von der Klägerin und dem M eingegangene "religiöse Ritus" reiche dafür nicht aus. Der Ritus sei von Syrien nicht anerkannt und damit auch keine Ehe im Sinne des § 26 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG.
Die Bewertung:
Die Entscheidung des BVwerG zeigt, dass es nicht "die Ehe" gemäß Art. 6 GG gibt. So wie es auch nicht "das Eigentum" bei Art. 14 GG gibt.
Das Grundgesetz gibt somit keine eigene Definition von "Ehe" und "Eigentum" vor.
Vielmehr muss zur Ermittlung des Begriffes "Ehe" das bereichsspezifische Gesetz herangezogen werden. Sofern es mit dem Grundgesetz vereinbar ist, definiert das einfache Gesetz dann den grund-rechtlichen Begriff.
Im vorliegenden Fall gibt also § 26 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG für "Antragsteller auf Asylberechtigung" vor, was für sie "Ehe" bedeutet.
Außenschalter von Apotheken
(Art. 12 GG; § 17 Abs. 1 ApBetrO)BVerwG (14.4.2005 - 3 C 9/04)
NVwZ 2005, 1198Mit der vorliegenden Entscheidung gibt das BVwerG seine bisherige Rechtsprechung zu § 17 ApBetrO auf.
Bisher ist das BVwerG davon ausgegangen, dass Außenschalter an Apotheken mit § 17 ApBetrO nicht vereinbar und damit unzulässig sind.
Nach § 17 ApBetrO dürfen Arzneimittel grundsätzlich nur in den Apothekenräumen in den Verkehr gebracht und nur durch pharmazeutisches Personal ausgehändigt werden.
Sinn dieser Regelung ist, dass Arzneimittel nur nach ausführlicher vorheriger Kontrolle und Beratung an den Patienten ausgehändigt werden sollen. Dies konnte nach bisheriger Auffassung bloß in den Apothekenräumen selbst geschehen. Und das auch nur durch geschultes Personal. Eine Abgabe von Medikamenten außerhalb des "normalen" Apothekenverkaufsraumes barg nach bisheriger Ansicht die Gefahr, dass eine effektive Kontrolle und Beratung nicht stattfinden könne.
Das bekannteste Beispiel für einen Außenschalter bei einer Apotheke ist der "Autoschalter" - wie bei einem Schnellrestaurant.
Durch die bisherige Rechtsprechung sollte verhindert werden, dass der Kunde im Auto bei laufendem Motor unterhalb der Scheibe des Apothekers sitzt und aufgrund dieser Situation eine ordentliche Beratung nicht möglich ist.Angesichts der Liberalisierung des Handels mit Medikamenten durch das Modernisierungsgesetz für die gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV-Modernisierung) hat sich jetzt aber die Rechtsprechung des BVwerG geändert:
Der Versandhandel mit apothekenpflichtigen Waren ist jetzt zulässig. Das bedeutet, dass die apothekenpflichtigen Waren zwar aus einer Apotheke herausgegeben wird, der Kunde aber nicht gezwungen ist, die Apotheke zu betreten. Er kann seine Bestellung schriftlich, telefonisch oder per Internet aufgeben und die Ware an einen beliebigen Ort senden lassen.
Mit dem Modernisierungsgesetz ist sogar der Versand von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln erlaubt worden. Der Grund dafür war, Erschwernisse des Kunden bei der Arzneimittelbeschaffung abzubauen.
Der Gesetzgeber selbst hält also eine ausführliche Beratung nicht mehr für notwendig.Wenn der Gesetzgeber aber den Versandhandel mit diesem Argument erlaubt, kann die Rechtsprechung es dem "normalen" Apotheker nicht verbieten, Waren an einem Außenschalter zu verkaufen. Denn es besteht kein öffentliches Interesse mehr an einer ausführlichen Beratung.
StrafrechtSchuldhaft herbeigeführte Notwehrlage
(§ 32 StGB)OLG Hamm (16.08.2005 - 1 Ss 316/ 05)
RÜ 2006, 40Der Sachverhalt:
A und B stritten sich. Infolge dieser Auseinandersetzung zog der A ein Teppichmesser und fuchtelte damit herum. B befürchtete, dass A ihn damit angreifen würde. Aufgrund dessen ergriff er die messerführende Hand des A, drehte sie ihm auf den Rücken und drückte den A mit dem Gesicht an eine Wand. Dem A gelang es, seine messerführende Hand frei zu bekommen. Während B ihn weiter fest-hielt und an die Wand drückte, versuchte A sich durch mehrere gegen die Beine des B gerichtete Messerstiche zu befreien. E konnte den Stichen ausweichen.Die Entscheidung:
Mit dem Stechen nach den Beinen des B hat A unmittelbar zu einer gefährlichen Körperverletzung angesetzt (§§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 2, 22, 23 I StGB).
Das OLG Hamm hatte nun aber zu klären, ob der A nicht durch Notwehr nach § 32 StGB gerecht-fertigt war.
Das OLG Hamm geht davon aus, dass A sich in einer Notwehrlage befand. Mit dem "Fuchteln" mit dem Teppichmesser hat A den B noch nicht angegriffen.
Allerdings war das Stechen mit dem Messer nicht geboten. Das Notwehrrecht des A war eingeschränkt:
Der A hat mit dem "Fuchteln" mit dem Messer (also durch sein vorangegangenes Handeln) seine Notwehrlage schuldhaft selbst herbeigeführt und den Angriff des B damit leichtfertig provoziert. Hinzu kommt, dass der B offenkundig in Putativnotwehr und damit nach den Grundsätzen des sog. Erlaubnistatbestandsirrtums zumindest schuldlos gehandelt hat.
Unter diesen Gesichtspunkten durfte der A nicht uneingeschränkt und bedenkenlos von seinem grundsätzlich bestehenden Notwehrrecht Gebrauch machen.
Dem A war in der konkreten vielmehr zuzumuten, zunächst alle Möglichkeiten der sog. Schutzwehr auszunutzen (Fallenlassen des Messers, verbale Klarstellung des Irrtums etc.).Die von A verübte versuchte gefährliche Körperverletzung war damit nicht durch Notwehr gerechtfertigt.
Die Bewertung:
Das OLG Hamm folgt mit dieser Entscheidung der bisherigen Linie des BGH. Danach ist die Not-wehr grundsätzlich allumfassend. Die (fast) einzigste Ausnahme ist die "Gebotenheit". Verursacht jemand seine Notwehrlage durch seine vorhergehende Handlung selbst, so ist seine Notwehr zwar nicht ausgeschlossen, aber stark eingeschränkt. Er ist nur noch zur sog. Schutzwehr berechtigt. Erst, wenn diese fehlschlägt, darf er wieder zur Trutzwehr übergehen.
Zivilrecht
Vorrang mündlicher Individualvereinbarungen vor Schriftformklauseln in Formularverträgen
(§§ 305 b, 307 BGB)BGH (21.09.2005 - XII ZR 312/02)
www.bundesgerichtshof.deSchließen zwei Parteien einen Vertrag, in dem es formularmäßig heißt "nachträgliche Änderungen und Ergänzungen dieses Vertrages gelten nur bei schriftlicher Vereinbarung", und vereinbaren sie später mündlich andere Vertragsbedingungen, so gilt das mündlich Vereinbarte.
Die Klausel, wonach Änderungen und Ergänzungen der Schriftform bedürfen, weicht von dem Grundsatz ab, dass Individualvereinbarungen vorgehen, § 305 b BGB. Daher verstößt die Klausel grundsätzlich gegen das gesetzliche Leitbild und ist daher nach § 307 BGB unwirksam.
Aber selbst, wenn die Klausel nicht unwirksam ist, sind Individualabsprachen gegenüber einer ange-messenen Schriftformklausel vorrangig. Das leitet der BGH aus dem Sinn und Zweck des § 305 b BGB ab: Formularverträge sind für eine Vielzahl von Verträgen konzipiert. Werden ausnahmsweise individuelle Klauseln vereinbart, gibt § 305 b BGB diesen Vorrang.drl